Die Qualifikationsmerkmale des Arbeitsvertrags

Jeu, 31 octobre 2024

Die Qualifikationsmerkmale des Arbeitsvertrags

Im Urteil 4A_93/2022 hat das Bundesgericht (nachfolgend: BGer) die charakteristischen Elemente des Arbeitsvertrags im Vergleich zu anderen Verträgen, wie namentlich dem Auftrag oder dem Werkvertrag, erneut festgehalten. Es ging im konkreten Fall um einen gemeinnützigen Verein (nachfolgend: Verein), welcher Eltern, die ihr Kind betreuen lassen wollen, Gasteltern zur Verfügung stellt. Für jede Aufnahme durch eine Gastfamilie wurde eine Vereinbarung auf Briefpapier des Vereins erstellt, die vom Verein, den platzierenden Eltern sowie den Gasteltern unterzeichnet wurde. Diese Vereinbarung qualifizierte das BGer als Arbeitsvertrag.

Aufgrund des Inkrafttretens des Mindestlohns im Kanton Neuenburg, verlangte eine Gastmutter vom Verein, dass ihr bisheriger Lohn überprüft werde. Der Verein lehnte dies ab und begründete seinen Entscheid damit, dass die Gastmutter als Selbstständigerwerbende tätig sei und sie mit dem Verein nicht durch einen Arbeitsvertrag, sondern durch einen Mandatsvertrag verpflichtet sei.

Das BGer hat bereits wiederholt festgehalten, dass die rechtliche Qualifikation eines Vertrags aufgrund dessen Inhalt erfolgt. Somit ist der Richter weder an die von den Parteien vorgenommene Qualifikation noch an ungenaue Ausdrücke oder Bezeichnungen gebunden, welche sie verwendet haben. Die Betitelung des Vertrags durch die Parteien als «Mandat» hat somit keinen Einfluss auf dessen tatsächliche Natur.


Feststellungen des BGer

Das BGer kam zum Schluss, dass ein Arbeitsverhältnis bestand. Als erstes prüfte es den Vertragsinhalt, wobei der tatsächliche und gemeinsame Wille der Parteien zu eruieren ist (subjektive Interpretation). Sofern dieser Wille nicht festgestellt werden kann, muss der Vertragsinhalt nach dem Vertrauensprinzip interpretiert werden (normative Interpretation).

Die charakteristischen Elemente des Arbeitsvertrags sind immer dieselben: (1) das Erbringen einer Arbeitsleistung, (2) das Vorliegen eines Subordinationsverhältnisses, (3) eines Dauerschuldverhältnis sowie (4) eines Lohns. Dabei ist das entscheidende Kriterium das Subordinationsverhältnis, welches den Arbeitnehmenden in eine Abhängigkeit zum Arbeitgeber versetzt, und zwar in zeitlicher, räumlicher, hierarchischer sowie wirtschaftlicher Hinsicht. Für ein Arbeitsverhältnis ist typisch, dass der Arbeitnehmende im Rahmen der Vertragserfüllung keine unternehmerischen Entscheidungen treffen und deshalb bspw. sein Einkommen nicht frei beeinflussen kann.

Im Gegenteil dazu kann sich im Rahmen eines Mandatsverhältnisses der Auftragnehmer, welcher die Weisungen des Auftraggebers befolgen muss, selbstständig organisieren. Charakteristische Eigenschaften einer selbstständigen Tätigkeit sind namentlich:

  • in eigenem Namen und auf eigene Rechnung tätig sein
  • eigene Räumlichkeiten haben
  • Investitionen tätigen, Geschäftskosten und Verlustrisiko selber tragen;
  • Angestellte beschäftigen
  • auf «Augenhöhe» mit dem Auftraggeber sein (ohne jemandem untergeordnet zu sein);
  • einer Ausgleichskasse angeschlossen sein
  • Aufträge für verschiedene Kunden ausführen (i.d.R. ist nicht von Selbstständigkeit auszugehen, wenn der Auftragnehmer nur einen einzigen Kunden hat)

Im konkreten Fall hat das BGer folgende Sachverhaltselemente berücksichtigt:

Die Gastmutter unterlag einer Genehmigungspflicht und der Verein war dafür zuständig, diese Genehmigung einzuholen und alle 2 Jahre zu erneuern. Weiter verpflichtete der Verein jegliche Gasteltern mittels schriftlicher Vereinbarung zu obligatorischen, selbst organisierten Weiterbildungen. Diese dienten einzig der Erfüllung der Qualitätskriterien des Vereins und sind gesetzlich nicht vorgeschrieben.

Der Verein behielt sich weiter vor, jederzeit die bei der Gastmutter herrschenden Aufnahmebedingungen zu kontrollieren. Dieses Kontrollelement ist für das Unterordnungsverhältnis des Arbeitsvertrags typisch. Zudem war es die Aufgabe des Vereins, bei Ausfall der Gastmutter eine Ersatzlösung zu finden. Die Gastmutter hatte ihrerseits lediglich die Pflicht, den Verein über jegliche Situationsveränderungen administrativer oder familiärer Natur innert 7-tägiger Frist, bzw. im Falle einer Schwangerschaft mind. 4 Monate vor dem Geburtstermin zu informieren. Ebenso bestand die Pflicht, die Ferien mind. einen Monat im Voraus anzukündigen.

Durch den Vertrag verzichtete die Gastmutter zudem darauf, andere Kinder zu betreuen, die ihr nicht durch den Verein vermittelt wurden. M.a.W. musste die Gastmutter ihre gesamte Arbeitskraft einem einzigen Vertragspartner widmen und konnte keine andere «Kunden» haben. Sie verfügte überdies über kein Ermessen, um den Preis für eine Betreuungsstunde zu erhöhen; dieser war vom Verein festgelegt.

In Bezug auf die Arbeitszeiten und den Arbeitsort musste die Gastmutter ihre Tätigkeit von zu Hause aus und in vorgegebenen Zeitblöcken ausüben. Sie verfügte aufgrund der klaren Vorgaben des Vereins über eine stark eingeschränkte Autonomie. 

Unabhängig der effektiven Einnahmen des Vereins erhielt die Gastmutter einen vordefinierten Geldbetrag, der den geleisteten Betreuungsstunden entsprach. Folglich trug die Betroffene kein wirtschaftliches Risiko; dieses fiel in die Sphäre des Vereins. Die Gastmutter erhielt des Weiteren Arbeitsmaterial (wie Reisebett, Doppelkinderwagen etc.) vom Verein zur Verfügung gestellt. Ihr wurden zudem die durch die Arbeit entstandenen Auslagen für Windeln, Feuchttücher, Mahlzeiten für die Kinder etc. vollständig erstattet.

Schliesslich wurde der Gastmutter monatlich ein Dokument zugesandt, welches mit «Lohnabrechnung» betitelt war und aus welchen hervorging, dass Sozialversicherungsbeiträge vom Lohn abgezogen wurden. 

In der Summe kommt das BGer zum Schluss, dass die Kriterien, die für ein Arbeitsverhältnis sprechen, überwiegen. Dies insb. deshalb, weil sich die Gastmutter in einem rechtlichen und wirtschaftlichen Unterordnungsverhältnis zum Verein befand.

Fazit

Mit dem besprochenen Urteil stellt das BGer ein weiteres Mal klar, dass Vertragsverhältnisse, die von einem Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnis geprägt sind, als Arbeitsvertrag zu betrachten sind.

Bestehen in Bezug auf die Rechtsnatur eines Vertragsverhältnisses Zweifel, empfehlen wir angesichts der für die Arbeitgeber bestehenden Risiken (Lohnzahlung, Gewährung von Ferien und Urlauben, Zahlung von Beiträgen an (Sozial-)Versicherungen etc.; vgl. hierzu auch unseren Artikel «Arbeitsvertrag oder selbständige Tätigkeit» vom 22. Mai 2024) von einem Arbeitsvertrag auszugehen. Im Rahmen der Beurteilung der Vertragsnatur kann im Übrigen die Ausgleichskasse eine gute Anlaufstelle sein: Der Arbeitgeber kann sich bei ihr bereits vorab erkundigen, ob die vereinbarte Vergütung für den Arbeitgeber als massgebender, AHV-pflichtiger Lohn gilt oder nicht.


Réservé aux abonnés Conseil et Conseil 360° Abonnez-vous

Choisir une catégorie:

Chargement…