Eine Verdachtskündigung liegt vor, wenn die Kündigung aufgrund eines blossen Verdachts einer Verfehlung ausgesprochen wird. Sie wird vor allem im Zusammenhang mit der fristlosen Entlassung thematisiert. Im Urteil 4A_694/2015 hatte nun das Bundesgericht zu beurteilen, ob eine ordentliche Kündigung aufgrund eines blossen Verdachts missbräuchlich ist oder nicht. Gewöhnlich reicht aufgrund der Kündigungsfreiheit ein blosser Verdacht, selbst wenn er sich nicht bewahrheiten sollte. Im vorliegenden Fall wurde die Kündigung jedoch als missbräuchlich beurteilt, da der Arbeitgeber nicht alle in der konkreten Situation angezeigten Massnahmen zur Überprüfung des Verdachts getroffen hatte.
Ordentliche Kündigung wegen Verdachts
Dem eingangs erwähnten Urteil des Bundesgerichts lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Eine „auxiliaire de santé“ arbeitete seit elf Jahren in einem „établissement médico-social“. Ein Bewohner dieser Einrichtung verlangte eines Tages eine Flasche Wasser. Die besagte Arbeitnehmerin brachte die Flasche, während der Bewohner nicht im Zimmer war, und stellte sie auf den Nachttisch. Der Bewohner gab an, nach dem Bestellen der Flasche Wasser zwanzig Minuten nicht im Zimmer gewesen zu sein. Somit konnte er nicht merken, ob in dieser Zeit jemand ins Zimmer gegangen sei. Nach seiner Rückkehr fand er die Flasche Wasser und kontrollierte sogleich den Inhalt seines Portemonnaies. Dabei stellte er fest, dass neun Franken fehlten. Zwei Tage später wurde der Arbeitnehmerin ordentlich gekündigt und sie wurde umgehend freigestellt. Grund der Kündigung war der vom Bewohner gemeldete Diebstahl: „… à la suite des accusations de vol portées à votre encontre par un résident, après l’avoir entendu et après un entretien pour entendre vos explications, nous avons formé notre conviction et le lien de confiance est définitivement rompu.“. Die Arbeitnehmerin hat diese Anschuldigung bestritten und Einsprache wegen missbräuchlicher Kündigung erhoben.
Das erstinstanzliche Gericht verurteilte den Arbeitgeber wegen missbräuchlicher Kündigung zur Bezahlung einer Entschädigung von 19 000 Franken. Die zweite Instanz beurteilte die Kündigung nicht als missbräuchlich.
Gemäss Bundesgericht ist die ordentliche Kündigung nicht einzig deshalb missbräuchlich, weil sich letztendlich gegebenenfalls die Anschuldigung gegen den Arbeitnehmer als unbegründet erweist oder nicht bestätigt werden kann. Der Missbrauch setzt nämlich zusätzlich voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer leichtfertig, ohne vernünftigen Grund, angeschuldigt hat.
Im vorliegenden Fall unterstrich der Direktor dieses Etablissements, dass der Bewohner in seinen Aussagen klar und nicht widersprüchlich war. Insbesondere erzählte dieser dem Direktor, auch vor dem Verlassen des Zimmers den Inhalt des Portemonnaies gezählt zu haben. Die Arbeitnehmerin hingegen konnte beim Gespräch vor der Kündigung nicht klar erklären, ob sie wusste oder nicht wusste, wo der Bewohner normalerweise sein Portemonnaie aufbewahrte. Nach den Aussagen des Direktors war der Bewohner gewöhnlich nicht misstrauisch. Eine an diesem Gespräch anwesende Kaderfrau hat eine Inkohärenz in den Aussagen der Arbeitnehmerin bezeugt. Insbesondere gab sie an, dass diese zuerst erklärt habe, das Portemonnaie befinde sich nicht in der Schublade des Nachttisches, und anschliessend habe sie das Gegenteil gesagt. Das Zimmer wurde mit einem zweiten Bewohner geteilt. Die Zeugin wusste jedoch nicht, ob der zweite Bewohner zum Zeitpunkt des Diebstahls im Zimmer war. Der angeblich bestohlene Bewohner war nicht dement und er schien im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten zu sein. Er litt lediglich unter Sehstörungen. Zum Zeitpunkt des Diebstahls zwischen 15.20 und 15.40 Uhr befanden sich zwei Personen in diesem Zimmer, der andere Bewohner und ein Besucher.
Nach Ansicht des Bundesgerichts ist das Verhalten des Bewohners merkwürdig. Es ist nicht üblich, dass eine Person häufig und auf den Franken genau den Inhalt ihres Portemonnaies zählt. Diese peinlich genauen Kontrollen lassen darauf schliessen, dass er nicht genau wusste, wie viel Geld in seinem Portemonnaie war und auch, dass er, entgegen der Ansicht des Direktors, zum Misstrauen neigte. In diesem Zusammenhang drängte sich auf, vorsichtig zu sein mit Anschuldigungen gegenüber der Arbeitnehmerin, auch wenn der Bewohner nicht bekannt war für falsche Anschuldigungen. Da das Zimmer von zwei Bewohnern benutzt wurde, hätte der Arbeitgeber ebenfalls den zweiten Bewohner befragen müssen, insbesondere ob er zu diesem Zeitpunkt im Zimmer war und ob er die Arbeitnehmerin beobachtet hatte. Diese Vorgehensweise war unabdingbar, wurde aber unterlassen. Das Bundesgericht kritisierte auch die Modalitäten des Gesprächs mit der Arbeitnehmerin. Der Arbeitnehmerin wurde nicht vorgängig mitgeteilt, dass sie des Diebstahls beschuldigt wird. Einzig der angeblich betroffene Bewohner hatte ihr mitgeteilt, dass in seinem Portemonnaie Geld fehle. Der Direktor hat der Arbeitnehmerin auch nicht die Möglichkeit gegeben, sich vor und während des Gesprächs unterstützen zu lassen, währenddem er von zwei Kadermitarbeitern begleitet wurde. Die Arbeitnehmerin wurde überrascht durch die Anschuldigung und die Kündigung, ohne ihre Ehre wirklich verteidigen zu können.
Um die Glaubwürdigkeit der Aussage des Bewohners einschätzen zu können, reichte es gemäss Bundesgericht nicht, ob die Arbeitnehmerin wusste oder nicht wusste, wo sich das Portemonnaie befand, noch dass sie sich in der Lage oder nicht in der Lage befand, sich dazu klar auszudrücken. In dem tatsächlich sensiblen Umfeld eines „établissement médicosocial“ ist ein Diebstahl einer Angestellten zum Nachteil eines Bewohners ein schwerwiegender Verstoss. Deshalb verursacht die Anschuldigung gegen eine Angestellte, einen Diebstahl begangen zu haben, eine nicht minder schwerwiegende Ehrverletzung der beschuldigten Person. Die Arbeitnehmerin arbeitete bereits elf Jahre in diesem Etablissement und erhielt die Kündigung aufgrund eines schwerwiegenden Verdachts eines Diebstahls, basierend auf einer fragwürdigen Anschuldigung, ohne alle angezeigten Überprüfungen vorgenommen zu haben, und ohne dieser Arbeitnehmerin die Möglichkeit gegeben zu haben, ihre Position und ihre Ehre wirksam verteidigen zu können. Die Kündigung war somit missbräuchlich gestützt auf OR 328/1 und 336/1. Die von der ersten Instanz berechnete und vom Arbeitgeber zu bezahlende Entschädigung von vier Monatslöhnen, entsprechend 19 000 Franken, erachtete das Bundesgericht als angemessen. Berücksichtigt wurde dabei, dass die Arbeitnehmerin 64-jährig war, keine Stelle mehr gefunden hat, eine schwerwiegende Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit erlitten hat und dass ihre psychologischen Leiden sie daran hinderten, inskünftig beruflich tätig zu sein.
Kommentar
Soll eine ordentliche Kündigung aufgrund eines blossen Verdachts ausgesprochen werden, sind vorgängig alle in Bezug auf den konkreten Einzelfall angezeigten Massnahmen zur Überprüfung des Verdachts zu treffen. Ansonsten riskiert der Arbeitgeber, dass die Kündigung allenfalls als missbräuchlich beurteilt und er entschädigungspflichtig wird.
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