Von einem anwendbaren Gesamtarbeitsvertrag (GAV) abweichende Regelungen in einem Einzelarbeitsvertrag sind nur dann zulässig, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger sind. Dabei ist gemäss Bundesgericht der Günstigkeitsvergleich im Sinne eines Gruppenvergleichs durchzuführen. Der Gruppenvergleich ist jedoch nur zulässig, wenn ein enger innerer Zusammenhang unter den einzubeziehenden Bestimmungen besteht. Ein solcher besteht beispielsweise beim Vergleich von Arbeitszeit und Lohn, jedoch nicht beim Vergleich von Lohn und Ferienentschädigung.
Günstigkeitsvergleich
Gemäss OR 357/2 sind Abreden in einem Einzelarbeitsvertrag nichtig, wenn sie gegen die unabdingbaren Bestimmungen eines GAV verstossen, und werden durch dessen Bestimmungen ersetzt. Jedoch können abweichende Bestimmungen zu Gunsten des Arbeitnehmers getroffen werden. Haben die Vertragsparteien eine vom GAV abweichende Regelung getroffen, ist somit ein so genannter Günstigkeitsvergleich vorzunehmen. Es muss bezogen auf das einzelne Arbeitsverhältnis geprüft werden, ob die einzelarbeitsvertragliche Vereinbarung für den Arbeitnehmer günstiger ist als die Regelung im GAV. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Regelung dem konkreten Arbeitnehmer lieber ist. Vielmehr muss von einem objektiven Massstab ausgegangen werden. Es ist darauf abzustellen, wie ein vernünftiger Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des Berufsstandes und der Verkehrsanschauung die Bewertung treffen würde. Die Objektivierung des Massstabs hat auch zur Folge, dass man nicht die einzelnen Bestimmungen isoliert miteinander vergleichen kann. Andererseits ist es aber auch nicht zulässig, in einem so genannten Gesamtvergleich den Einzelarbeitsvertrag insgesamt mit dem GAV zu vergleichen. Vielmehr ist ein Gruppenvergleich vorzunehmen. Mit dem Gruppenvergleich werden eng zusammenhängende Bestimmungen des GAV mit den entsprechenden Regelungen im Einzelarbeitsvertrag verglichen.
Zulässiger Gruppenvergleich
Im Entscheid 4A_629/2011 vom 6. Juni 2012 hatte das Bundesgericht folgenden Sachverhalt zu beurteilen: Die Vertragsparteien hatten mündlich eine Wochenarbeitszeit von 45 Stunden vereinbart. Der anzuwendende GAV für das Schweizerische Carrosseriegewerbe sah eine wöchentliche Arbeitszeit von 41 Stunden vor, die jedoch nicht als zwingende wöchentliche Arbeitszeit oder Höchstarbeitszeit angesehen werden konnte. Vielmehr war im GAV ausdrücklich festgehalten, dass nebst einem Ausgleich in Form von Kompensation durch Freizeit auch eine allfällige Auszahlung nach betrieblicher Praxis erfolgen kann. Der Arbeitnehmer war der Meinung, bei der Differenz von vier Wochenstunden handle es sich um Überzeit, welche nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses von der Arbeitgeberin zu entschädigen sei. Gemäss Kantonsgericht ist offenbar zu keiner Zeit eine GAV-konforme Wochenarbeitszeit von 41 Stunden thematisiert worden. Aus der Untätigkeit bzw. dem Schweigen des Arbeitnehmers ist unter diesen Umständen auf einen konkludenten Willen zur Abrede nach OR 357/2 auf 45 Stunden zu schliessen. Diese vom GAV abweichende Vereinbarung der Wochenarbeitszeit hat nicht zwingend schriftlich festgehalten werden müssen. Die vom GAV abweichende, stillschweigende Abrede unter den Parteien hatte gemäss Bundesgericht die Mehrarbeit (im Vergleich zur vom GAV vorgegebenen Normalarbeitszeit) – vom Kantonsgericht zu Recht als „Arbeitszeitausdehnung“ umschrieben – und nicht die Verpflichtung zur permanenten Leistung von Überstunden zum Inhalt. Eine solche Vereinbarung ist nicht von vornherein nichtig. Ihre Gültigkeit hängt davon ab, ob sie für den Arbeitnehmer günstiger ist. Da der vom Kantonsgericht durchgeführte Günstigkeitsvergleich im Sinne eines Gruppenvergleichs, bei welchem auf den wöchentlich vier Mehrstunden ein Überstundenzuschlag auf der Basis des effektiven Lohnes berücksichtigt wurde, ergab, dass der Arbeitnehmer durch die konkludente Abrede eine (lohnmässige) Besserstellung gegenüber dem GAV-Mindestlohn erfuhr, wurde gemäss Bundesgericht eine Verletzung von OR 357/2 zu Recht verneint. Dem Einwand des Arbeitnehmers, dass eine GAV-widrige Regelung nicht durch einen finanziellen Sondervorteil erkauft werden könne, ist entgegenzuhalten, dass die einzelarbeitsvertragliche Vereinbarung einer höheren als der im GAV vorgesehenen Arbeitszeit zu einem entsprechend höheren Lohn dem Interesse des Arbeitnehmers im Zweifelsfall eher entspricht als die im GAV vorgesehene Regelung, sofern beim Abschluss des Einzelarbeitsvertrags kein Druck auf den Arbeitnehmer ausgeübt wurde und dieser sich der im GAV vorgesehenen Regelung bewusst war.
Unzulässiger Gruppenvergleich
Der Vergleich kann gemäss Bundesgericht nur innerhalb eines zusammenhängenden Regelwerkes erfolgen. Das Erfordernis des inneren Zusammenhangs ist dabei eng zu verstehen. Selbst bei einem Vergleich der Lohnsysteme kann deshalb nicht in jedem Fall das gesamte mutmassliche Jahreseinkommen mit der Regelung des GAV verglichen werden. Vielmehr hat das Bundesgericht im Entscheid 116 II 153 festgehalten, die Gegenüberstellung des Gesamtlohnes gemäss GAV sowie gemäss Einzelarbeitsvertrag sei auf die Zeitspanne eines Monats zu begrenzen.
Im Entscheid 134 III 399 hatte das Bundesgericht zu prüfen, ob der vom Arbeitgeber bezahlte übertarifliche Lohn die Differenz zwischen der im Einzelarbeitsvertrag vorgesehenen Ferienentschädigung (7,7%) und der im Landesmantelvertrag für das Schweizerische Bauhauptgewerbe festgesetzten (10,6 bzw. 13%) ausgleichen konnte. Die Ferienregelung sowohl des GAV als auch des Gesetzes will sicherstellen, dass derjenige Arbeitnehmer, der seinen Lohn unter dem Jahr ausgibt, während den Ferien den gleichen Betrag ausgeben kann. Das ist aber bei der im vorliegenden Fall einzelarbeitsvertraglich vorgesehenen Lösung nicht gewährleistet. Somit ist eine solche Berechnung mit den Regeln von OR 357 nicht vereinbar. Kommt hinzu, dass die fragliche einzelarbeitsvertragliche Vereinbarung auch gegen OR 329d verstösst.
Kommentar
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung ist sachgerecht und erfreulich. Sie lässt den Vertragsparteien einen gewissen Regelungsspielraum. Jedoch gilt es jeweils im Einzelfall abzuklären, ob ein genügend enger innerer Zusammenhang der in den Gruppenvergleich einzubeziehenden Bestimmungen gegeben ist oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage könnte sich in anderen als den vom Bundesgericht beurteilten Fällen unter Umständen als schwierig erweisen.
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