Einordnung und Auswirkungen der multilateralen Vereinbarung zur grenzüberschreitenden Telearbeit

11. September 2023

Einordnung und Auswirkungen der multilateralen Vereinbarung zur grenzüberschreitenden Telearbeit

Grenzüberschreitende Telearbeit 

Seit dem 1. Juli 2023 ist die multilaterale Vereinbarung zur grenzüberschreitenden Telearbeit in Kraft, welche von der Schweiz und bestimmten EU- und EFTA-Staaten unterzeichnet worden ist. Nachfolgend ordnen wir die Vereinbarung im internationalen Sozialversicherungs-Kontext ein und zeigen deren Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse auf.

Unterstellungsregeln: Was gilt ab dem 1. Juli 2023?

Personen, die gewöhnlich in mehreren Staaten arbeiten und in ihrem Wohnstaat einen wesentlichen Teil, sprich 25% oder mehr, der Tätigkeit ausüben, unterstehen grundsätzlich dem Sozialversicherungsrecht des Wohnstaats. Grundlage für diese Regelung bildet Art. 13 der europäischen Verordnung (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in den EU/EFTA-Staaten.

Gestützt auf Art. 16 Abs. 1 der Verordnung (EG) 883/2004 haben die Schweiz und bestimmte EU- und EFTA-Staaten eine multilaterale Vereinbarung unterzeichnet, welche die Telearbeit aus dem Ausland ab dem 1. Juli 2023 im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber erleichtert.

Stand Anfang September 2023 haben folgende Länder die Vereinbarung unterzeichnet: Belgien, Deutschland, Frankreich, Finnland, Liechtenstein, Luxemburg, Kroatien, Malta, Niederlande, Österreich, Norwegen, Polen, Portugal, Schweiz, Schweden, Slowakische Republik, Slowenische Republik, Spanien, Tschechische Republik. Die jeweils aktuelle Liste der Unterzeichner-Staaten finden Sie unter diesem Link.

Art. 3 der Vereinbarung sieht vor, dass Personen, die in dem Staat arbeiten, in dem sich auch der Sitz des Arbeitgebers befindet, «weniger als 50% der Gesamtarbeitszeit» in ihrem Wohnstaat leisten können, ohne dass dies Auswirkungen auf die Sozialversicherungen hat.

Mit anderen Worten: Der Arbeitnehmer unterliegt gestützt auf die Vereinbarung den Sozialversicherungen am Sitz des Arbeitgebers, solange er zwischen 25% und 49,9% in Form von Telearbeit in seinem Wohnstaat leistet. Telearbeit im Umfange bis zu 24.9% wird nach den Unterstellungsregeln von Art. 13 der Verordnung (EG) 883/2004 beurteilt, mehr dazu weiter unten unter «Folgen bei Nichtanwendbarkeit der Vereinbarung».

Geltungsbereich der Vereinbarung: Welche Situationen sind abgedeckt, welche nicht?

Die Vereinbarung ist anwendbar auf Personen, für die das Freizügigkeitsabkommen mit der EU bzw. das EFTA-Übereinkommen gilt und umfasst dabei alle Personengruppen in einer grenzüberschreitenden Telearbeitssituation.

Das bedeutet, dass ein Arbeitnehmer mit kanadischer Staatsbürgerschaft, der in Frankreich wohnt und in der Schweiz arbeitet, nicht unter den Anwendungsbereich der Vereinbarung fällt.

Ausserdem müssen der Staat, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, und der Staat, in dem sich der Wohnsitz des Arbeitnehmers befindet, das multilaterale Abkommen unterzeichnet haben.

Die Vereinbarung ist jedoch nicht anwendbar auf Personen, die:

  • neben der Telearbeit im Wohnstaat dort zusätzlich gewöhnlich eine andere Tätigkeit (z.B. regelmässige Kundenbesuche, selbstständige Nebenbeschäftigung) ausüben, auch wenn dieser die multilaterale Vereinbarung unterzeichnet hat;
  • gewöhnlich bzw. regelmässig neben der Telearbeit im Wohnstaat in einem weiteren EU bzw. EFTA-Staat eine Tätigkeit ausüben;
  • neben der Tätigkeit für ihren Schweizer Arbeitgeber noch für einen Arbeitgeber in der EU bzw. in einem EFTA-Staat arbeiten;
  • selbstständig erwerbstätig sind.

Das bedeutet, dass beispielsweise ein Arbeitnehmer mit französischer Staatsbürgerschaft, der in Frankreich wohnt und in der Schweiz für ein Bahnunternehmen sowie in Frankreich zusätzlich in einem kleinen Pensum für ein weiteres Bahnunternehmen arbeitet, nicht unter den Anwendungsbereich der Vereinbarung fällt.

Hätte der Arbeitnehmer in der Schweiz einen weiteren Arbeitgeber, z.B. die BLS, so wäre die Vereinbarung dennoch anwendbar.

Handhabung der 50%-Schwelle

Was bedeutet die Formulierung «weniger als 50 % der Gesamtarbeitszeit» für die Praxis? Die «Mitteilungen an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen Nr. 470» erläutert, dass nicht etwa für jede Woche gesondert die Schwelle der 50% gilt, sondern dass für die Berechnung der 50% vielmehr die Zeitspanne der folgenden 12 Kalendermonate und der während dieser Dauer angenommenen Arbeitssituation massgebend sind.

Somit darf die 50%-Grenze also durchaus in einer Woche oder einem Monat überschritten werden, sofern sich dies im Jahresschnitt wieder ausgleicht. Vorausgesetzt ist, dass die Person in einer gewissen Regelmässigkeit zwischen Telearbeit im Wohnstaat und Arbeit vor Ort abwechselt.

Anwendung und Umsetzung der Vereinbarung

Zuerst gilt es bei jeder konkreten Ausgangslage abzuklären, ob die Vereinbarung auf diese anwendbar ist. Angenommen, die Vereinbarung ist grundsätzlich anwendbar, so muss im Staat des Arbeitgebers ein Antrag gestellt werden, damit die Vereinbarung tatsächlich auf das konkrete Anstellungsverhältnis zur Anwendung kommt.

Ist die Vereinbarung grundsätzlich auf eine Person anwendbar, so hat diese eine Wahlmöglichkeit; diese Wahlmöglichkeit wird zur Verdeutlichung aufgezeigt an folgendem Beispiel:

Eine Arbeitnehmerin mit französischer Staatsbürgerschaft wohnt in Frankreich und arbeitet in Genf. Dabei erledigt sie ihr 100%-Pensum zu 40% im Homeoffice im Wohnstaat und zu 60% in Genf.

Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Vereinbarung sind erfüllt:

  • die Arbeitnehmerin hat somit die Wahl, den Sozialversicherungen in der Schweiz unterstellt zu werden, sofern sie einen entsprechenden Antrag stellt.
  • Falls die Arbeitnehmerin keinen Antrag stellt, so bleibt sie den Sozialversicherungen in Frankreich unterstellt.

Sofern die Arbeitnehmerin ihr Homeoffice-Pensum auf 60% erhöht, so kämen automatisch Koordinationsregeln der Verordnung (EG) 883/2004 zur Anwendung und sie wäre den Sozialversicherungen in Frankreich unterstellt.

Wie ist der Antrag bei der Wahl der Sozialversicherungsunterstellung in der Schweiz zu stellen?

Der Arbeitgeber in der Schweiz kann den Antrag selbst stellen, indem er ihn unter Verwendung der Geschäftsfall-Art "grenzüberschreitende Telearbeit" in das ALPS-Informationssystem eingibt. Der Geschäftsfall wird sodann automatisch an den ausländischen Sozialversicherungsträger im Wohnstaat des Arbeitnehmers übermittelt.

Der Arbeitgeber ist somit gut beraten, bei Personen, auf welche die Vereinbarung anwendbar ist und die im Umfang bis zu 49.9% im Homeoffice im Wohnstaat arbeiten wollen, aktiv die mögliche Unterstellung unter die schweizerischen Sozialversicherungen zu thematisieren und den entsprechenden Antrag selbst zu stellen. Fällt die Wahl auf die Unterstellung unter die schweizerischen Sozialversicherungen, muss der Arbeitgeber zudem nicht direkt mit dem zuständigen ausländischen Sozialversicherungs-Träger nach dessen Beitragssätzen und Vorschriften abrechnen.

Sofern der Antrag vom ausländischen Sozialversicherungsträger genehmigt wird, wird automatisch eine Bescheinigung A1 erstellt, welche die Zuständigkeit der Sozialversicherungen des Staates des Arbeitgebersitzes bescheinigt und für maximal 3 Jahre gültig ist.

Folgen bei Nichtanwendbarkeit der Vereinbarung

Bei Telearbeit in einem Staat, der die multilaterale Vereinbarung nicht unterzeichnet hat, oder für einen Arbeitgeber mit Sitz in einem Staat, welcher der Vereinbarung nicht beigetreten ist, gelten die ordentlichen Unterstellungsregeln von Art. 13 der Verordnung (EG) 883/2004: Demnach hat Telearbeit in einem EU/EFTA-Staat bis maximal 24.9% keine Auswirkungen auf die Sozialversicherungen und der Arbeitnehmer unterliegt den Sozialversicherungen am Sitz des Arbeitgebers.

Dasselbe gilt folglich bei Telearbeit in einem EU/EFTA-Staat im Umfange von weniger als 25%, auch wenn die Telearbeit in einem Staat, der die multilaterale Vereinbarung unterzeichnet hat, und für einen Arbeitgeber mit Sitz in einem Staat, welcher der Vereinbarung beigetreten ist, erbracht wird.

Sofern also beispielsweise eine Person 20% Telearbeit in einem EU/EFTA-Staat, der die multilaterale Vereinbarung nicht unterzeichnet hat, für einen Schweizer Arbeitgeber leistet, so wären die Sozialversicherungsregeln des Staates des Arbeitgebers massgebend.

Wenn die Person in derselben Konstellation jedoch zwischen 25% und 100% Telearbeit leistet, so kämen die Sozialversicherungsregeln des Wohnstaates der Person zur Anwendung.

Die Möglichkeit der vorübergehenden grenzüberschreitenden Telearbeit zu 100%

Auch wenn in einem konkreten Fall die multilaterale Vereinbarung nicht zur Anwendung kommt, kann immer noch eine vorübergehende grenzüberschreitende Telearbeit vereinbart werden:

Denn sofern eine Person vorübergehend zu 100% Telearbeit in einem EU/EFTA-Staat leisten wird, kommt gestützt auf Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) 883/2004 eine Entsendung in Frage, sofern die Voraussetzungen hierfür gegeben sind:

Die Voraussetzungen hierfür sind u.a.:

  • die Entsendung ist vorübergehend und punktuell sowie nicht Teil des üblichen Arbeitsmusters
  • die Entsendung wurde zwischen den Parteien vereinbart
  • die Entsendung dauert weniger als 24 Monate
  • die von der zuständigen Ausgleichskasse ausgestellte Entsendebescheinigung A1 liegt vor

Die üblichen Regeln bei einer Entsendung sind zudem ebenfalls einzuhalten: Details dazu finden sich in Randziffer 2024 ff. der Wegleitung des BSV über die Versicherungspflicht in der AHV/IV (WVP).

Sind alle diese Voraussetzungen gegeben, kann der Arbeitgeber bei der zuständigen AHV-Ausgleichskasse über das ALPS-Informationssystem einen Antrag auf Entsendung stellen (Geschäftsfall "Entsendung") und so die Entsendebescheinigung A1 beantragen. In der Konsequenz bleibt die Person für die vereinbarte Dauer den Sozialversicherungen in der Schweiz unterstellt.

Wichtig für den Arbeitgeber in der Praxis

Es lohnt sich aufgrund der vorangegangenen Ausführungen, bei grenzüberschreitenden Arbeits- und Telearbeits-Konstellationen im Vorfeld eine gründliche und exakte Auslegeordnung vorzunehmen.

Wissenswert ist weiter, dass die Unterstellung unter das Sozialversicherungssystem eines Staates nicht automatisch bedeutet, dass die Regeln desselben Staates für die Steuerzuständigkeit gelten, da Steuer- und Sozialversicherungsrecht im internationalen Kontext nicht koordiniert und die Zuständigkeiten jeweils einzeln abzuklären sind.

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