3. November 2014
Als wichtiges Instrument der Sozialpartnerschaft haben die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz eine lange Tradition. Zurzeit sind rund 600 Gesamtarbeitsverträge in Kraft. Rund 70 davon sind allgemeinverbindlich erklärt und spielen eine besondere Rolle, da sie für alle Arbeitsverhältnisse des betreff enden Wirtschaftszweiges oder Berufes gelten, auch wenn die Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmer den vertragsschliessenden Arbeitgeberorganisationen bzw. Gewerkschaften nicht angehören. Da es sich also um eine zwingende Unterstellung handelt, kommt der Bestimmung des Geltungsbereichs eines allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrags eine zentrale Bedeutung zu. Insbesondere bei Mischbetrieben ist oft unklar und somit umstritten, ob ein allgemeinverbindlich erklärter Gesamtarbeitsvertrag auf ihn und seine Angestellten anwendbar ist oder nicht. In der vorliegenden Ausgabe werden anhand des Urteils 4A_351/2014 des Bundesgerichts vom 9. September 2014 die Unterstellungskriterien, welche die Rechtsprechung anwendet, aufgezeigt. Dabei ist entscheidend, welche Tätigkeiten einem Betrieb oder selbständigen Betriebsteil das Gepräge geben
Allgemeines zur Allgemeinverbindlicherklärung
Auf Gesuch der vertragschliessenden Verbände können die zuständigen Behörden im Bund und in den Kantonen Gesamtarbeitsverträge (GAV) allgemeinverbindlich erklären, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dazu erfüllt sind. Insbesondere muss ein bestimmtes Quorum vorliegen, das heisst am GAV müssen mehr als die Hälfte aller Arbeitgeber und mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer beteiligt sein, auf die der Geltungsbereich des GAV ausgedehnt werden soll. Zudem müssen die beteiligten Arbeitgeber mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer beschäftigen. Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) will einheitliche Mindestarbeitsbedingungen für die auf dem gleichen Markt tätigen Unternehmen schaffen und damit verhindern, dass ein Unternehmen durch schlechtere Arbeitsbedingungen einen Wettbewerbsvorteil erlangen kann. Mit der AVE wird der Geltungsbereich eines GAV ausgedehnt auf alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber der betreff enden Branche. In den AVE-Beschlüssen ist jeweils aufgeführt, für welches Gebiet, welche Branche und welche Arbeitnehmer die allgemeinverbindlich erklärten Bestimmungen des GAV gelten. Zurzeit sind auf Bundesebene rund 40 und auf kantonaler Ebene gut 30 allgemeinverbindlich erklärte GAV in Kraft. Ihnen sind insgesamt rund 73‘000 Arbeitgeber und rund 624‘000 Arbeitnehmer unterstellt.
Unterstellungskriterien
Ob ein Betrieb unter einen allgemeinverbindlich erklärten GAV fällt, entscheidet gemäss Bundesgericht allein der Richter, nicht die paritätische Kommission. Bei einem Branchen- bzw. Industrievertrag unterstehen diejenigen Arbeitnehmer dem GAV, die in einem bestimmten Wirtschaftszweig tätig sind. Die Frage, welchem Wirtschaftszweig ein Unternehmen anzurechnen ist, beantwortet sich nach der Tätigkeit, die ihm das Gepräge gibt. Entscheidend ist nicht der Handelsregistereintrag, sondern die tatsächliche Tätigkeit. Nach dem Grundsatz der Tarifeinheit gilt der GAV für den ganzen Betrieb und somit auch für berufsfremde Arbeitnehmer, wobei regelmässig gewisse Funktionsstufen und besondere Anstellungsverhältnisse ausgenommen werden. Allerdings kann ein Unternehmen mehrere Betriebe umfassen, welche unterschiedlichen Branchen angehören, oder es können innerhalb ein und desselben Betriebs mehrere Teile bestehen, welche eine unterschiedliche Zuordnung rechtfertigen, weil sie eine genügende, auch nach aussen erkennbare Selbständigkeit aufweisen. In diesen Fällen können dann auf die einzelnen Teile des Unternehmens unterschiedliche GAV zur Anwendung gelangen oder Teile des Betriebs sind gar nicht unterstellt. Massgebliches Zuordnungskriterium bei einem Industrievertrag ist somit die Art der Tätigkeit, die dem Betrieb oder dem selbständigen Betriebsteil – und nicht dem Unternehmen als wirtschaftlichem Träger allenfalls mehrerer Betriebe – das Gepräge gibt.
Ausgangspunkt für die Zuordnung eines Betriebs ist die auf dem Markt angebotene einheitliche (Arbeits-) Leistung. Den dabei notwendigerweise und als integrierter Bestandteil anfallenden Hilfs- und Nebentätigkeiten kommt keine eigenständige Bedeutung zu, selbst wenn sie einen grösseren Arbeitsaufwand als die Grundleistung erfordern sollten.
Anwendungsfall
Im Urteil 4A_351/2014 vom 9. September 2014 ging es um die Frage, ob der Gesamtarbeitsvertrag des Ausbaugewerbes der Westschweiz gestützt auf die Allgemeinverbindlicherklärung auf das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers als „Bodenleger-Innendekoration“ anwendbar ist. Der Arbeitnehmer machte geltend, der GAV gelte für sämtliche Arbeitgeber, die hauptsächlich oder nebenbei Parkett verlegen. Beim zu beurteilenden Betrieb handelt es sich um einen unechten Mischbetrieb, der mit seinen vier bis fünf Angestellten zu klein ist, um in Sektoren aufgeteilt zu werden. Entsprechend gilt gemäss Bundesgericht der Grundsatz der Tarifeinheit, was von keiner Partei in Abrede gestellt wird. Der Betrieb bietet verschiedene Produkte im Zusammenhang mit Innendekoration an, wovon die Bodenlegerarbeiten bzw. die Parkettverlegung lediglich 35% des gesamten Tätigkeitsbereichs ausmachen. Die Arbeiten im Bereich der Innendekoration bestehen im Verkauf von Vorhängen, Bettwaren und dergleichen sowie in der Verarbeitung/Produktion von Vorhängen, Polsterungen als auch in der Lieferung dieser Produkte und stellen somit den hauptsächlichen Tätigkeitsbereich des Betriebs dar. Die Arbeiten im Bereich der Innendekoration geben dem Betrieb somit das Gepräge im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, womit der Parkettverlegung nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Der Betrieb fällt demnach mit seiner prägenden Tätigkeit nicht unter den Geltungsbereich des GAV. Daran mag nichts zu ändern, dass der Betrieb (nebenbei) auch das Verlegen von Parkettböden anbietet. Denn bietet ein Betrieb höchstens in untergeordnetem Ausmass weitere „branchenfremde“ Leistungen an, ist es für die prägende Tätigkeit bedeutungslos, ob sie in einem sogenannten (unechten) Mischbetrieb ausgeübt werden, und folglich auch, ob diese Qualifikation erkennbar war.
Kommentar
Die Thematik der Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen ist zurzeit auch politisch aktuell, da die Vernehmlassung für eine Optimierung der flankierenden Massnahmen läuft. In diesem Zusammenhang sollen zur Missbrauchsbekämpfung allenfalls Erleichterungen bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen eingeführt werden. Es ist davon auszugehen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen in Zukunft noch weiter an Bedeutung zunehmen wird und sich womöglich noch vermehrt Unterstellungsfragen stellen werden.
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