Arbeitnehmer eines zahlungsunfähigen Arbeitgebers haben unter gewissen Voraussetzungen Anspruch auf Insolvenzentschädigung von der Arbeitslosenversicherung. Davon ausgenommen sind jedoch bestimmte Arbeitnehmer. Dazu zählen insbesondere Arbeitnehmer, die als Mitglieder eines obersten betrieblichen Entscheidungsgremiums die Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmen oder massgeblich beeinflussen können. Gemäss Bundesgericht (Urteil 8C_865/2016) ist dabei nicht allein die Funktion, die Unterschriftsberechtigung und der Handelsregistereintrag entscheidend, sondern die tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse.
Sachverhalt
Gegen eine in Zahlungsschwierigkeiten geratene Unternehmung wurde der Konkurs eröffnet. Am Tag nach der Konkurseröffnung kündigte das Konkursamt den Arbeitsvertrag mit der „directrice générale de la faillite“ – unter dieser Bezeichnung war sie mit Einzelunterschrift im Handelsregister eingetragen – auf den nächsten gesetzlichen Termin. Anschliessend machte die Arbeitnehmerin bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Neuenburg Insolvenzentschädigung geltend. Aufgrund ihrer leitenden Funktion im Unternehmen wurde das Gesuch abgelehnt. Die daraufhin eingereichte Beschwerde der Arbeitnehmerin wurde vom „Cour de droit public du Tribunal cantonal“ gutgeheissen. Die Arbeitslosenkasse des Kantons Neuenburg zog anschliessend den Fall ans Bundesgericht weiter.
Anspruch auf Insolvenzentschädigung
Nach Art. 51 Abs. 1 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) haben ALV-beitragspflichtige Arbeitnehmer eines Arbeitgebers, der in der Schweiz der Zwangsvollstreckung unterliegt oder in der Schweiz Arbeitnehmer beschäftigt, Anspruch auf Insolvenzentschädigung, insbesondere wenn gegen ihren Arbeitgeber der Konkurs eröffnet wird und ihnen in diesem Zeitpunkt Forderungen gegen diesen zustehen. Anspruchsberechtigt sind auch Grenzgänger und Arbeitnehmer, die das Mindestalter für die AHV-Beitragspflicht noch nicht erreicht haben.
Keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung haben jedoch Personen, die in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter, als finanziell am Betrieb Beteiligte oder als Mitglieder eines obersten betrieblichen Entscheidungsgremiums die Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmen oder massgeblich beeinflussen können (AVIG 51/2).
Entscheidend ist nicht allein die Funktion, die Unterschriftsberechtigung und der Handelsregistereintrag…
In seinem Urteil erinnert das Bundesgericht daran, dass AVIG 31/3 lit. c den gleichen Personenkreis vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung ausschliesst wie AVIG 51/2 von der Insolvenzentschädigung. Somit konnte man sich im vorliegenden Fall analog auf die Rechtsprechung zu AVIG 31/3 lit. c beziehen. Danach ist es nicht zulässig, einem Arbeitnehmer allein deswegen den Anspruch zu verneinen, weil er eine leitende Funktion ausübt und für den Betrieb zeichnungsberechtigt und im Handelsregister eingetragen ist.
…sondern die tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse
Gemäss Bundesgericht ist die Frage, ob eine arbeitnehmende Person einem obersten betrieblichen Entscheidungsgremium angehört und ob sie in dieser Eigenschaft massgeblich Einfluss auf die Unternehmensentscheide nehmen kann, in aller Regel aufgrund der internen betrieblichen Struktur zu beantworten. Keine Prüfung des Einzelfalls ist erforderlich, wenn sich die massgebliche Entscheidungsbefugnis bereits aus dem Gesetz selbst (zwingend) ergibt. Dies triff t beispielsweise zu auf einen mitarbeitenden Verwaltungsrat einer AG, für welchen das Gesetz in der Eigenschaft als Verwaltungsrat in OR 716 – 716b verschiedene, nicht übertrag- und entziehbare, die Entscheidungen des Arbeitgebers bestimmende oder massgeblich beeinflussende Aufgaben vorschreibt. Diese Person ist generell vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung ausgeschlossen.
Der Gesetzgeber wollte mit AVIG 51/2 diejenigen Personen nicht besonders schützen, die sowohl Einfluss auf Geschäftsgang und Firmenpolitik sowie Einsicht in die Bücher haben, und daher von akuter Insolvenz des Arbeitgebers nicht überrascht sind. Obschon das Einsichtsrecht in die Buchhaltung ein Indiz darstellt für den Einfluss, den ein Arbeitnehmer auf die Unternehmensentscheide nehmen kann, kann dies kein unabhängiges Ausschlussmotiv begründen. Der verantwortliche Rechnungsführer wäre sonst einzig aufgrund seiner Funktion im Unternehmen ausgeschlossen vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung. Dies wäre jedoch gemäss Bundesgericht unvereinbar mit dem klaren Wortlaut und der ratio legis von AVIG 51/2. Diese Bestimmung nimmt vorrangig an, dass die von der Insolvenzentschädigung ausgeschlossene Person einen massgeblichen Einfluss nehmen kann auf die Geschäftsführung des Arbeitgebers. Entscheidend ist zu wissen, ob der Arbeitnehmer einen entscheidenden Einfluss nehmen konnte bei der Willensbildung des Unternehmens betreff end die Ausrichtung, Erweiterung oder Einstellung der Geschäftstätigkeit. Kann der Arbeitnehmer selber den Umfang seiner Befugnisse bestimmen – mit den damit zusammenhängenden Missbrauchsrisiken – hat er keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung.
Im vorliegenden Fall war die Arbeitnehmerin zwar zeichnungsberechtigt mit Einzelunterschrift, aber nur „afi n d’assurer le suivi courant des aff aires“. Doch führte dies dazu, dass sich die Arbeitnehmerin gute Kenntnisse über die Unternehmung aneignete. Diese waren so gut, dass es nicht erstaunlich war, dass sie – begleitet vom Finanzbuchhalter des Unternehmens für Fragen zur Buchhaltung – in der Lage war, die Fragen des Konkursamts zu beantworten. Trotzdem und trotz den vielen von der Arbeitslosenkasse während des Verfahrens vorgelegten Dokumenten war kaum denkbar, dass die Arbeitnehmerin einen entscheidenden Einfluss auf die Geschäftsführung des Unternehmens oder auf die strategischen Optionen des Verwaltungsrats hat ausüben können. Somit war die Arbeitnehmerin nicht zum Kreis derjenigen Personen zu zählen, die vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung ausgeschlossen sind.
Kommentar
Der Direktor eines Unternehmens gehört in der Regel zum Kreis der vom Anspruch auf Insolvenzentschädigung ausgeschlossenen Personen, da er die Möglichkeit hat, Entscheidungen für das Unternehmen zu treffen, welche die Mitarbeitenden betreff en, u.a. Entlassungen auszusprechen. Wie aber der vorliegende Fall zeigt, gibt es Ausnahmen. Bei der Beurteilung sind also jeweils im Einzelfall die tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse der betroffenen Person massgebend.
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