Praktische Relevanz der Abgangsentschädigung

3. November 2023

Praktische Relevanz der Abgangsentschädigung

A. Einführung

Nach dem Wortlaut von Art. 339b OR hat ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis nach 20 oder mehr Jahren endet, Anspruch auf eine Abgangsentschädigung, wenn er mindestens 50 Jahre alt ist. Der Hauptzweck dieser gesetzlichen Bestimmung, welche 1971 im Gesetz verankert wurde, ist das Füllen einer allfälligen Lücke bei ausbleibenden oder unzureichenden Vorsorgeleistungen (Botschaft des Bundesrats vom 25. August 1967, BBl 1967 II 407). Seit Inkrafttreten (1985) des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) wird dieser Zweck im Rahmen der obligatorischen beruflichen Vorsorge erfüllt.

Das Gesetz sieht jedoch vor, dass die Abgangsentschädigung in bestimmten Fällen, je nach Art der Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder wenn Ersatzleistungen bestehen, herabgesetzt oder gar gestrichen werden kann (siehe Buchstabe C.). Aufgrund des BVG-Obligatoriums stellt sich die Frage, ob diese Entschädigung überhaupt noch ihre Berechtigung hat (siehe Buchstabe D.). Bevor diese Frage behandelt wird, werden zunächst kurz die Regeln zur Bestimmung der Höhe der Entschädigung aufgezeigt. 

B. Der Betrag der Abgangsentschädigung

Die Abgangsentschädigung muss mindestens dem Betrag von zwei Monatslöhnen des Arbeitnehmers entsprechen, wobei die Parteien schriftlich einen höheren Betrag vereinbaren können (Art. 339c Abs. 1 OR). Ein höherer Betrag kann auch durch Gesamtarbeitsvertrag (GAV) oder Normalarbeitsvertrag (NAV) vorgesehen sein. Darin werden die Beträge teilweise in Anwendung von Skalen bestimmt. In Fällen, in welchen die Höhe der Entschädigung nicht im Voraus bestimmt wurde, kann sie im Rahmen eines Gerichtsverfahrens vom Richter nach seinem freien Ermessen festgelegt werden. Dabei müssen neben dem Alter und den Dienstjahren des Arbeitnehmers die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Dazu gehören insb. die Höhe des Lohns, allfällige Gratifikationen, die Zukunftsaussichten des Arbeitnehmers, die Situation beim neuen Arbeitgeber, die familiären Pflichten des Arbeitnehmers sowie die finanzielle Situation des ehemaligen Arbeitgebers (BGE 115 II 30). Die durch den Richter festgesetzte Entschädigung darf den Betrag nicht übersteigen, der dem Lohn des Arbeitnehmers für acht Monate entspricht (Art. 339c Abs. 2 OR).

C. Die Herabsetzung oder der Wegfall der Abgangsentschädigung

Die Abgangsentschädigung kann in den folgenden Konstellationen herabgesetzt werden oder gar wegfallen (Art. 339c Abs. 3 OR):

i. Der Arbeitnehmer hat das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund gekündigt 

Um seinen Anspruch auf eine Abgangsentschädigung nicht zu verlieren, muss der Arbeitnehmer wichtige Gründe für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gehabt haben. Die Gerichte nehmen einen solchen Grund an, wenn die Kündigung aus gesundheitlichen Gründen erfolgte, der Arbeitnehmer einen Betriebsübergang ablehnte oder im Hinblick auf einen wahrscheinlichen (oder eröffneten) Konkurs des Arbeitgebers kündigte (SUBILIA/DUC, Art. 339c OR N 14, S. 687; WYLER/HEINZER, S. 892 m.w.H.).

ii. Das Arbeitsverhältnis wurde durch die fristlose Kündigung des Arbeitnehmers aus wichtigem Grund aufgelöst 

Um die Entschädigung zu kürzen oder zu verweigern, muss der Arbeitgeber wichtige Gründe nach Art. 337 OR für die fristlose Kündigung geltend machen können. Erweist sich die fristlose Kündigung als ungerechtfertigt, so kann der Arbeitnehmer zusätzlich zu den unter Art. 337c OR vorgesehenen Ansprüchen eine Abgangsentschädigung geltend machen, sofern die entsprechenden Voraussetzungen bei Beendigung des Vertragsverhältnisses nach Ablauf der ordentlichen Fristen erfüllt gewesen wären. 

In Anbetracht dessen, dass der Gesetzestext ausdrücklich die fristlose Kündigung voraussetzt, bedeutet der Verzicht des Arbeitgebers auf eine fristlose Kündigung auch den Verzicht auf die Herabsetzung der Abgangsentschädigung.

iii. Die Leistung der Abgangsentschädigung würde den Arbeitgeber in eine Notlage versetzen 

Aufgrund der Treuepflicht des Arbeitnehmers kann die Entschädigung auch herabgesetzt werden oder wegfallen, wenn deren Zahlung den Arbeitgeber in eine Notlage versetzen würde.

Dabei gilt es zu beachten, dass der Konkurs nicht als Notlage gilt. Der Arbeitnehmer kann seine Lohnforderung in der ersten Klasse im Kollokationsplan anmelden (SUBILIA/DUC, Art. 339c OR N 17 und 20, S. 688 f.).

Schliesslich gilt es zu beachten, dass eine Arbeitgeberkündigung missbräuchlich sein kann, wenn damit vertragliche Ansprüche vereitelt werden. Es geht hier v.a. darum, dass gewisse besondere Vergütungen im Arbeitsverhältnis, so wie eben u.a. die Abgangsentschädigung, an einen bestimmten Zeitpunkt geknüpft sind und durch eine Kündigung vereitelt werden können. Wird einem Arbeitnehmer kurz vor dem 50. Geburtstag gekündigt, damit er keine Abgangsentschädigung geltend machen kann, dürfte die Kündigung missbräuchlich sein (Urteil des BGer 4C.388/2006 vom 30. Januar 2007).

D. Abzug der Ersatzleistungen

Hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Leistungen einer Vorsorgeeinrichtung, so können diese, soweit sie vom Arbeitgeber oder aufgrund seiner Zuwendungen von der Vorsorgeeinrichtung finanziert worden sind, von der Abgangsentschädigung abgezogen werden (Art. 339d Abs. 1 OR). M.a.W. wird die Abgangsentschädigung gekürzt oder fällt weg, wenn der Arbeitgeber genügend Beiträge in die berufliche Vorsorge eingezahlt hat. Ist der verzinste Arbeitgeberanteil grösser als eine allfällige Abgangsentschädigung (=im Minimum 2 Monatslöhne), ist Letztere nicht geschuldet, weil der Arbeitgeber bereits in genügendem Umfang zur beruflichen Vorsorge des Arbeitnehmers beigetragen hat. Die Frage, ob die Arbeitgeberbeiträge mit oder ohne Zins zu berücksichtigen sind, wurde höchstrichterlich noch nicht entschieden. Unseres Erachtens scheint es korrekt, die Zinsen mit zu berücksichtigen, da der Arbeitgeber mit seinem Beitrag an das Vorsorgeguthaben des Arbeitnehmers daran gehindert wurde, das betreffende Geld anderweitig zu investieren.

Beispiel: 

  • Abgangsentschädigung beträgt: CHF 32‘000.00 (8 Monate zu CHF 4‘000.00); 
  • Das von der Vorsorgeeinrichtung gemeldete Altersguthaben inkl. Zinsen (oder Freizügigkeitsleistung) beträgt: CHF 70‘000.00. 
  • Die Hälfte der Freizügigkeitsleistung (CHF 35‘000.00) stammt von Arbeitgeberbeiträgen (inkl. Zinsen). Da dieser Betrag die Abgangsentschädigung übersteigt, ist diese nicht geschuldet.
  • Wenn in diesem Beispiel das Altersguthaben nur CHF 40‘000.00 betragen würde, müsste der Arbeitgeber noch CHF 12‘000.00 Abgangsentschädigung bezahlen.

Der Arbeitgeber ist auch dann von der Pflicht zur Bezahlung einer Abgangsentschädigung befreit, wenn er dem Arbeitnehmer künftige Vorsorgeleistungen verbindlich zusichert oder ihm solche durch einen Dritten zusichern lässt (Art. 339d Abs. 2 OR). So zum Beispiel, wenn der Arbeitgeber eine Lebensversicherung zugunsten des Arbeitnehmers abgeschlossen hat oder dem pensionierten Arbeitnehmer weiterhin regelmässig und während mehrerer Jahre Lohn ausbezahlt. 

E. Hat die Abgangsentschädigung noch praktische Relevanz?

Seit dem 1. Januar 1985 ist der Anschluss an eine Vorsorgeeinrichtung obligatorisch, sobald der Arbeitnehmer ein Jahreseinkommen über der BVG-Eintrittsschwelle (im Jahr 2023: CHF 22‘050.00) erzielt. Dieser obligatorische Anschluss hat die Konsequenz, dass die grosse Mehrheit der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Pensionierung Vorsorgeleistungen erhalten wird. Da die BVG-Beiträge mindestens zur Hälfte durch den Arbeitgeber zu finanzieren sind (Art. 66 BVG), leisten diese einen bedeutenden Beitrag an das Altersguthaben des Arbeitnehmers. Daraus folgt, dass die Fälle in welchen aufgrund ungenügender Vorsorgemassnahmen eine (herabgesetzte) Entschädigung geleistet werden muss, heute sehr gering sind. Werden zusätzlich die Fälle berücksichtigt, in welchen ein anderer Grund für den Wegfall der Abgangsentschädigung besteht (Kündigung ohne wichtigen Grund, fristlose Kündigung aus wichtigen Gründen oder Notlage), so reduzieren sich die Anzahl Fälle noch weiter. 

Die Abgangsentschädigung behält ihre Berechtigung für diejenigen Fälle, in welchen das geäufnete Vorsorgeguthaben des Arbeitnehmers ungenügend ist. Dies trifft namentlich dann zu, wenn das Jahreseinkommen geringer ist als CHF 22‘050.00 (z.B. bei Teilzeitarbeitenden). In den anderen Fällen ist hingegen davon auszugehen, dass der Arbeitgeber über die Dauer von 20 Jahren BVG-Leistungen mindestens im Umfang einer allfälligen Abgangsentschädigung finanziert. Im Gegensatz dazu kann eine Abgangsentschädigung dem Arbeitnehmer zustehen, der ein Jahreseinkommen über dem BVG-Maximallohn erzielt (im Jahr 2023: CHF 88‘200.00) und keine Deckung für diesen zusätzlichen Teil des Lohnes besteht (Überobligatorium). Es ist jedoch selten, dass der Arbeitgeber keine Vorsorgedeckung für den überobligatorischen Teil vorsieht. 

F. Fazit

Die Gründe für die Herabsetzung oder den Wegfall der Abgangsentschädigung sind zahlreich. Die Folge davon ist, dass es heute nur selten zur Auszahlung einer Abgangsentschädigung kommt, wenn eine solche nicht in einem Arbeitsvertrag, GAV oder NAV vorgesehen ist. Schliesslich ist auch zu berücksichtigen, dass ein Arbeitnehmer immer seltener 20 Dienstjahre erreichen wird. Das Sammeln von verschiedenen Arbeitserfahrungen und beruflichen Herausforderung bei verschiedenen Arbeitgebern wird heute nämlich oft einer Karriere bei einem gleichen Arbeitgeber vorgezogen.

Trotz der geringen praktischen Bedeutung der Abgangsentschädigung bleibt die fragliche Gesetzesbestimmung weiter bestehen. Folglich ist jedes Mal, wenn ein Arbeitsverhältnis nach 20 Dienstjahren beendet wird zu prüfen, ob eine Abgangsentschädigung geschuldet ist oder nicht. Dies auch wenn man in der Regel zum Resultat gelangen wird, dass keine geschuldet ist. 


Literaturangaben : 

Subilia Olivier, Jean-Louis Duc, Droit du travail, éléments de droit suisse, Lausanne 2010 

Wyler Rémy, Heinzer Boris, Droit du travail, 4. Auflage, Bern, 2019 

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