Art. 329h des Obligationenrechts (OR) und Art. 36 Abs. 3 und 4 des Bundesgesetzes über die Arbeit (ArG) sehen die Verpflichtung des Arbeitgebers vor, den Arbeitnehmenden Kurzurlaub für «die Pflege eines Familienmitglieds oder des Lebenspartners mit gesundheitlicher Beeinträchtigung» zu gewähren. Diese Bestimmung erscheint bei erster Lektüre klar, wirft jedoch tatsächlich einige Auslegungsfragen auf, auf die wir nachfolgend eingehen.
Art. 329h OR
Der Arbeitnehmende hat Anspruch auf bezahlten Urlaub für die Pflege eines gesundheitlich beeinträchtigten Familienmitglieds oder des Lebenspartners; der Urlaub ist auf die für die Pflege erforderliche Zeit begrenzt, darf aber 3 Tage pro Fall und insgesamt 10 Tage pro Jahr nicht überschreiten.
Art. 36 Abs. 3 und 4 ArG
3 Der Arbeitgeber hat der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer gegen Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses Urlaub für die Betreuung eines Familienmitglieds, der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners mit gesundheitlicher Beeinträchtigung zu gewähren; der Urlaub ist auf die für die Betreuung erforderliche Dauer begrenzt, beträgt jedoch höchstens 3 Tage pro Ereignis.
4 Ausser bei Kindern beträgt der Betreuungsurlaub höchstens 10 Tage pro Jahr.
Arbeitnehmende haben Anspruch auf Urlaub, wenn ein Familienmitglied gesundheitlich beeinträchtigt ist und dadurch die Notwendigkeit einer Betreuung entsteht. Gem. Art. 329h OR handelt es sich um einen bezahlten Urlaub von max. 3 Tagen pro Fall und max. 10 Tagen pro Jahr, für alle Ursachen und (fast) alle Familienmitglieder zusammengezählt. Die zweite Grenze von max. 10 Tagen gilt jedoch nicht, wenn es um die Betreuung von Kindern geht (Art. 36 Abs. 4 ArG).
Die genannten Gesundheitsbeeinträchtigungen können sowohl auf Krankheit, Unfall als auch auf Behinderungen zurückzuführen sein.
Die Dauer des Urlaubs ist in jedem Fall auf die «für die Betreuung erforderliche Zeit» begrenzt. Die 3 Tage pro Fall stellen dabei die Obergrenze dar. So viel ist klar. Aber in welchen Situationen ist die Betreuung durch den Arbeitnehmenden selbst erforderlich?
Die Frage ist umstritten und die Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung (BBl 2019 3941) äussert sich in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Bis es allfällige klärende Gerichtsurteile gibt, befürworten wir mit Blick auf die Missbrauchsgefahr eher eine restriktive Auslegung bei der Frage der Notwendigkeit der Betreuung.
Unserer Ansicht nach besteht der Zweck des Betreuungsurlaubs darin, den Arbeitnehmenden kurzfristig die Bewältigung unvorhersehbarer Betreuungssituationen, in denen Angehörige nicht sich selbst überlassen werden können, zu ermöglichen. Dies maximal jedoch, bis eine zumutbare Drittbetreuung organisiert werden kann. Gegebenenfalls ist eine solche Betreuung durch Pflegepersonal oder durch Organisationen wie das Rote Kreuz sicherzustellen. Es handelt sich beim Betreuungsurlaub somit grundsätzlich nicht um ein Recht der Arbeitnehmenden, physisch bei einem gesundheitlich beeinträchtigten Angehörigen zu sein; vielmehr muss der Arbeitnehmende selbst die Betreuung wahrnehmen. Ausnahme davon bildet das Abschiednehmen eines im Sterben liegenden Angehörigen.
Daraus folgt im Umkehrschluss, dass jede vorhersehbare oder planbare Situation nicht in den Anwendungsbereich der Art. 329h OR und Art. 36 ArG fällt. So können sich Arbeitnehmende bspw. nicht auf den Betreuungsurlaub berufen, um einen Angehörigen zu einem geplanten Arzttermin oder einer Behandlung zu begleiten.
Ebenso wenig können Arbeitnehmende einen Betreuungsurlaub geltend machen, wenn Angehörige bereits angemessen betreut werden. Hier sei bspw. an Fälle von Krankenhausaufenthalten gedacht, in welchen der Angehörige bereits durch das Krankenhauspersonal angemessen betreut wird.
Die in den Art. 329h OR und Art. 36 ArG genannten Angehörigen leiten sich aus Art. 29septies AHVG (Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung) ab: Verwandte in auf- und absteigender Linie, Geschwister, Ehegatten (oder eingetragene Partner, auch wenn diese nicht ausdrücklich vom Gesetz erwähnt werden), Schwiegereltern sowie der Lebenspartner, wenn der Arbeitnehmende seit mind. 5 Jahren ununterbrochen mit diesem in häuslicher Gemeinschaft lebt. Bei den Kindern ist ein Kindesverhältnis im Sinne des Zivilrechts erforderlich.
Die Dauer des Urlaubs ist auf 3 Tage pro Fall begrenzt. Die Botschaft des Bundesrats legt fest, dass es dabei um Arbeitstage geht. Diese Haltung muss u.E. dahingehend präzisiert werden, dass eine alternative Betreuungslösung innert 3 Kalendertage gefunden werden kann. So muss ein Vollzeitangestellter, der an einem Montagmorgen eine Drittbetreuung organisieren muss, spätestens am Donnerstagmorgen wieder zur Arbeit erscheinen (in diesem Fall sind 3 Urlaubstage = 3 Arbeitstage). Tritt jedoch die Notwendigkeit der Betreuung an einem Freitagmorgen ein, kann der Arbeitgeber ohne Vorliegen ausserordentlicher Umstände wie bspw. die objektive Unmöglichkeit, am Wochenende eine Drittbetreuung zu organisieren, davon ausgehen, dass der Arbeitnehmende am Montagmorgen zur Arbeit zurückkehrt. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass 3 Tage die Maximaldauer des Urlaubs darstellen. Sofern eine Drittbetreuung also früher organisiert werden kann, hat der Arbeitnehmende vor Ablauf der 3 Tage zur Arbeit zurückzukehren.
Dasselbe wie zuvor geschildert gilt für einen Teilzeitangestellten, der am Montag, Donnerstag und Freitag arbeitet: Dieser hat nicht Anspruch auf eine ganze Kalenderwoche Urlaub. Vielmehr muss dieser spätestens am Donnerstagmorgen die Arbeit wieder aufnehmen, wenn er am Montagmorgen eine Betreuung wahrnehmen muss.
Neben dem Maximum pro Fall (3 Tage), sieht das Gesetz ein absolutes Maximum von 10 bezahlten Urlaubstagen pro Jahr vor. Für Vollzeitangestellte, die an ganzen Tagen Betreuungsurlaub beziehen, ist die Berechnung relativ einfach. In der Realität sind Arbeitnehmende oft auch nur teilzeitbeschäftigt. Selbstredend wäre es nicht vertretbar, die Dauer der Lohnfortzahlung an den Beschäftigungsgrad anzupassen. Für einen Vollzeitangestellten mit einer Fünftagewoche beträgt der Anspruch auf Betreuungsurlaub total 2 Arbeitswochen. Für einen Teilzeitangestellten, der an 2 Tagen pro Woche arbeitet, beträgt er folglich 5 Arbeitswochen. Ausserdem kann der Betreuungsurlaub je nach Umstand tage-, halbtage- oder stundenweise bezogen werden.
Deshalb schlagen wir vor, die vom Gesetz gewährten 10 Urlaubstage als Äquivalent von zwei Wochen zu interpretieren; dies in Bezug auf die Stundenanzahl sowohl als auch auf den Lohn. Diese Lösung erachten wir als die einzige, welche zugleich praktikabel ist und die Gleichbehandlung aller Arbeitnehmenden gewährleistet.
Wie bereits erwähnt sieht das ArG ausdrücklich vor, dass die absolute Höchstgrenze von 10 Tagen für die Betreuung von Kindern nicht gilt. Auch wenn der Arbeitnehmende also sein volles Guthaben an Betreuungsurlauben ausgeschöpft hat, wird er für die Kinderbetreuung trotzdem noch Urlaubstage erhalten.
Wie verhält es sich denn in Bezug auf die Bezahlung der Urlaubstage? Art. 36 ArG legt dazu nichts fest. Allerdings präzisiert das SECO in seiner Wegleitung zu Art. 36 ArG, dass die Obergrenzen für die Lohnfortzahlung für die Betreuung aller Angehörigen gelten, Kinder miteingeschlossen. Gemäss Botschaft des Bundesrats (S. 3980) haben Arbeitnehmende – bei Ausschöpfung des bezahlten Urlaubsanspruchs nach Art. 329h OR, bzw. alternativ dazu – auch gestützt auf Art. 324a OR Anspruch auf Lohnfortzahlung, wenn die Absenz unter die gesetzliche Unterhaltspflicht der Eltern fällt.
Art. 36 Abs. 3 ArG sieht vor, dass der Urlaub «gegen Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses» gewährt werden muss, was im OR nicht ausdrücklich verlangt wird. Dies hat aber nicht zur Folge, dass Arbeitnehmende, welche sich für den Betreuungsurlaub auf das OR stützen (und nicht auf das ArG) von der Pflicht befreit sind, einen Nachweis für den Anspruch auf den fraglichen Urlaub zu erbringen. Denn gem. Art. 8 ZGB (Schweizerisches Zivilgesetzbuch), welcher die Beweislast regelt, hat – wo das Gesetz es nicht anders bestimmt – jede Partei das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, die aus ihr Rechte ableitet.
In der Praxis wird sich der Arbeitgeber bei einem intakten Vertrauensverhältnis zum Arbeitnehmenden in der Regel auf dessen Behauptung verlassen. Wenn allerdings ein Beweis verlangt wird, wird dieser in aller Regel in Form eines Arztzeugnisses erbracht. Dieses muss attestieren, dass die Person, für welche der Betreuungsurlaub beantragt wird, gesundheitlich beeinträchtigt und pflegebedürftig ist. Da das Arztzeugnis jedoch nicht als Abwesenheitsgrund für den urlaubbeantragenden Arbeitnehmenden fungiert, muss darin grundsätzlich nicht darauf hingewiesen werden, dass die Anwesenheit des Arbeitnehmenden beim Angehörigen unerlässlich ist.
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